Übersetzung des New York Times Berichts

Kneipensterben trägt zur Kulturdebatte in Deutschland bei

Von Melissa Eddy, New York Times, 06.10.2018

HANDORF-LANGENBERG, Deutschland – Als der 87-jährige Hubert Frilling vor einem Jahr friedlich im Schlaf verstarb, sah es so aus, als würde die seit über 60 Jahren von ihm betrieben Dorfkneipe „Zum Schanko“ mit ihm sterben.

Seit Generationen hatten die holzverkleideten Räume von Schanko – Herrn Frillings Spitzname – Handorf-Langenberg, einem 1.500-Seelen-Dorf im Nordwesten Deutschlands, als Gemeindezentrum und erweitertes Wohnzimmer für unzählige Geburtstage, Taufen und andere Treffen von Freunden und Familien gedient.

„Das Herz von Handorf-Langenberg schlägt nicht mehr“, sagte der Pastor auf Herrn Frillings Beerdigung letzten November in der prall gefüllten St. Barbara Kirche, zwei Straßen von der Kneipe entfernt.

Doch Sportvereinsvorsitzender Maik Escherhaus und einige Freunde hatten die Idee, Schanko zu retten, durch den Verkauf von Anteilen an Bewohner, Weggezogene und alle, die sonst noch Interesse hätten.

Nachdem sie in einer intensiven Kampagne die benötigten 200.000 Euro für den Kauf aufbringen konnten, begannen Schankos neue Besitzer diesen Herbst mit den Renovierungsarbeiten und nehmen Reservierungen für die große Wiedereröffnung im Frühjahr an.

„Wir liefen Gefahr, nicht nur unsere letzte Kneipe, sondern ein Kulturgut zu verlieren“, sagte Herr Escherhaus, 40, der im Schützenverein aktiv ist und im Männerchor singt.

Schanko hat zwar überlebt, doch ist dies für eine wachsende Anzahl traditioneller deutscher Restaurants und Schankhäuser nicht der Fall – seien es der „Gasthof“ und das „Wirtshaus“, der „Dorfkrug“ oder die „Kneipe“.

Das deutsche Schankhaus ist zunehmend vom Aussterben bedroht, es ist ein Opfer der älter werdenen Bevölkerung, besonders in Dörfern, der Urbanisierung, die junge Leute in die Städte zieht, der sozialen Medien, die mehr und mehr Menschen zum Austausch von Geschichten und Nachrichten nutzen und der wachsenden Multikulturalität in der deutschen Gesellschaft.

Dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband nach gab es in Deutschland zwischen 2010 und 2016 einen 20-prozentigen Rückgang in der Anzahl traditioneller Kneipen. Viele von ihnen befanden sich, wie Schanko, in Dörfern und Kleinstädten, wo sie dem Allgemeingut, sowie dem Allgemeindurst, dienten, doch wo die Bevölkerungen schrumpfen.

„Wir hatten viele Angebote von Pizzerien oder asiatischen Fast-Food Restaurants“, merkte Herr Escherhaus im Bezug auf die am Schanko-Standort interessierten Unternehmen an. Doch sei dies nicht das gewesen, was das Dorf brauche, um den gesellschaftlichten Zusammenhalt aufrecht zu erhalten.

In Zeiten, in denen die Deutschen eine Debatte über ihre Identität ausgelöst haben, nachdem sie seit 2015 über eine Million Flüchtlinge aus größtenteils muslimischen Ländern im mittleren Osten und Afrika aufgenommen haben, ist das Schicksal der traditionellen Schankhäuser sogar zum politischen Thema geworden.

Um zu versuchen, sie zu retten, hat die bayerische Landesregierung ein 35-Millionen-Dollar Finanzpaket zusammengestellt. Dieses soll den Besitzern von Schankhäusern und Restaurants in ländlichen Gegenden helfen, zu überleben.

Solche Gelder werden Besitzern in Niedersachsen, wo Schanko sich befindet, wohl nicht helfen. Es ist eine Region, in der sandiger Boden bedeutet, dass weder Weizen, noch Bäume, sehr hoch wachsen, doch die Wurzeln der Einwohner, und ihr Stolz, sitzen tief.

Um genau diese Solidarität zu nutzen, wandten sich Herr Escherhaus und seine Freunde einer weiteren deutschen Tradition zu: Der Genossenschaft.

Bis September hatten sie über 1.000 Anteile an über die Hälfte der Bewohner und andere, die sich dem Schankhaus verbunden fühlten, verkauft. Der älteste Anteilseigner war über 80, die jüngste, Anna, erhielt ihren Anteil am Tag ihrer Geburt.

Andreas Wieg, Vorsitzender des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbands, stellte fest, dass die Anzahl der Genossenschaften zur Rettung kultureller Institutionen in den letzten Jahren zwar gestiegen sei, sein Verband darüber jedoch keine Statistiken führt.

„Diese Entwicklung spiegelt den Bedarf von Bewohnern ländlicher Gegenden, ihre Zukunft in einer gesunden sozialen Umgebung sicher zu stellen, wider“, sagte er.

Bei Schanko hatten an einem Freitagabend im Spätsommer Dutzende mitgeholfen, das Schankhaus für eine letzte Feier in den alten Räumen vorzubereiten, bevor es für die Renovierungsarbeiten geschlossen wurde.

Drei Männer kamen früh, um das Unkraut zu jäten, dass zwischen Parkplatz und Straße gewachsen war. Andere bauten draußen auf dem Parkplatz Biertische und -bänke auf, da die Räumlichkeiten für den erwarteten Andrang wohl zu klein sein würden.

„Schanko gehört zu Langenberg wie der Dom zu Köln“, sagte Hubert Beckmann, 61, und prostete seinen Freunden zu. „Das ist das Zentrum des Dorflebens.“

Unter den Freiwilligen waren Cäcilia Trumme, bewaffnet mit Toilettenbürste und Eimer, um das

leckende Waschbecken in der Damentoilette zu reparieren, und Christa Middendorf, 60, die älteste Tochter des ehemaligen Besitzers.

Frau Middendorf erinnerte sich, wo in den 60er Jahren der Musikautomat stand, an die Tanzkurse in den 70ern und an die Intuition ihrer Mutter, wann es an der Zeit war, den jungen Männern kein Bier mehr auszuschenken.

„Das ist klasse, jeder schaut zurück und erinnert sich an verschiedene Dinge“, so Frau Middendorf. „So bleibt das am Laufen, es stirbt nie.“

Herr Escherhaus und einige Freunde hatten schon zwei Jahre vor dem Ableben von Schankos Besitzer mit der Idee einer Genossenschaft gespielt. Sie wussten, dass sie sich auf das Unvermeidbare vorbereiten mussten.

Als sie sich mit der Idee, eine Genossenschaft zu gründen, an Frau Middendorf wandten, half sie dabei, ihren Vater zu überzeugen, dass dies eine Möglichkeit wäre, das Geschäft, dass er und seine Frau 1955 gegründet hatten, für zukünftige Generationen am Leben zu erhalten.

Doch Herr Frillings Tod kam früher, als irgendjemand erwartet hätte. Plötzlich sahen sich Herr Escherhaus und zwei Freunde, mit denen er die Genossenschaft gegründet hatte, mit einer sechsmonatigen Frist, den Kaufpreis von 200.000 Euro aufzubringen, konfrontiert.

In den ersten zwei Wochen waren die Leute begeistert. Dann wurde es weniger. Die Genossenschaftler gingen von Tür zu Tür und baten jeden, der konnte, um Hilfe.

„Natürlich gab es Skeptiker, die gesagt haben, „so viel Geld kriegt ihr nie zusammen““, sagte Norbert Klauss, Diakon der St. Barbara Kirche, „aber die Leute wussten auch sofort, was auf dem Spiel stand.“

Herr Escherhaus wandte sich sogar an den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, da dieser in seiner alljährlichen Weihnachtsansprache letztes Jahr die Kluft zwischen städtischen und ländlichen Gegenden in Deutschland hervorgehoben hatte.

Ein vom Präsidenten selbst unterzeichneter Brief kam zurück, voll des Lobes über die Rettungsaktion für Schanko als „glänzendes Beispiel dafür, was in ländlichen Regionen erreicht werden kann, wenn man die Initiative zur Selbsthilfe ergreift.“

Im April waren die Gelder beisammen, doch sie brauchten noch immer jemanden, der die Gemeinde und die Bedeutung von Schanko für sie verstand, um das Geschäft fortzuführen.

Man fand schließlich Andreas Mählmann, 61, aus einer 30 Meilen entfernten Stadt, der den von vielen Gästen noch immer gesprochenen regionalen Dialekt beherrscht.

Gemeinsam mit seiner Partnerin Gabi Von Husen schlugen sie ein Menü mit Schnitzel und

Sauerbraten vor, mit speziellen Gerichten zu Weihnachten und der höchst wichtigen Spargelsaison im Frühjahr, sowie Grünkohl im Winter.

„Es ist wichtig, Menschen zu verstehen, zu wissen, wie man an sie ran gehen muss“, sagte Herr Mählmann mit einem Nicken zu Herr Escherhaus, „wir kriegen das hin.“

Katrin Robben, 49, und ihre Tochter Katharina haben beide Anteile gezeichnet. Während die Mutter den Ort bewahren wollte, an dem sie im Kinderchor gesungen und später den Mann getroffen hatte, den sie heiraten würde, wollte ihre Tochter sich einen Ort sichern, an dem einst solche Erinnerungen gemacht werden können.

„Es ist für unsere Zukunft wichtig, dass wir Schanko behalten“, sagte die 24-Jährige, als das Gelächter alter Geschichten vom prall gefüllten Tisch hinter ihr schallte, „ich will hier auch feiern können.“

Übersetzt aus dem Englischen von Christoph Schlarmann